Im Mai 2020 saß ich mit meinem Schulfreund Micha im Garten und trank Bier. Micha war Mitte der 90er Jahre nach dem Abi nach Berlin gezogen und dort sesshaft geworden. Wie bei fast allen anderen „Berlinern“, die ich kenne, waren seine Heimatbesuche recht selten. Er tauchte immer nur zu wichtigen Ereignissen auf; Geburtstag der Frau Mama, Geburtstag von Jesus und Heimspiel gegen Köln. Unter Corona im ersten Lockdown war er vor der Enge in der Stadt und seiner kleinen Wohnung in der dritten Etage in Prenzelberg aufs Land geflohen. Wie zu Schulzeiten, nur ohne Unterricht, lebte er knapp drei Monate in seinem alten Kinderzimmer und wurde von seiner Mutter mit Frühstück, Mittag- und Abendessen versorgt. Da das kulturelle Angebot für einen verwöhnten Großstädter in unserer Heimatstadt schon vor Corona sehr bescheiden war, trafen wir uns gerne zum Biertrinken im Garten oder machten zusammen Radtouren. Dafür hatte ich ihm das alte Hollandrad meiner Oma zur Verfügung gestellt. - Das Radeln hat ihm so viel Freude bereitet, dass er sich zurück in Berlin sofort ein eigenes Rad im Netz geschossen hatte. Mit dem Fiets durch den Park cruisen ist ja auch viel angenehmer, als U-Bahnfahren bei einer Inzidenz von 180. - Bei einer unserer Garten-Sessions erzählte ich ihm, dass ich noch nie auf dem Drachenfels gewesen sei. Auch er kannte den sagenumwobenen Berg nicht in Natura und so fassten wir den Plan, dies zu ändern.
Ich mag Aufläufe, besonders Lasagne, aber um Menschenaufläufe mache ich lieber einen Bogen. Ich bin ja auch kein Kannibale. Aus diesem Grund hatte ich mich bisher noch nicht dorthin gewagt. Die Drachenfelsbahn hatte den Betrieb noch nicht wieder aufgenommen. Das sollte die Menschen wohl davon abhalten, dort hinaufzuklettern. Da wir Beide zu jener Zeit keinerlei Verpflichtungen hatten, saßen wir schon am nächsten Tag in meinem Wagen und fuhren rheinaufwärts Richtung Königswinter. Auf dem Parkplatz Oberweingartenweg, auf dem unter normalen Umständen Hunderte von Auto Platz haben, standen nur ein Dutzend Fahrzeuge. Es sah genau so aus, wie wir gehofft hatten. Ich lud mein Fahrrad aus und wir setzten uns in Bewegung. Die ersten Meter bis zum Lemmerzbad waren harmlos, doch dann wird es steiler. Ich fluchte innerlich, weil ich meine Gazelle bergauf schieben musste und mir mal wieder bewusst wurde, dass der Name Kaltblutpferd oder Mammut für ein Fahrrad mit 25 Kilogramm doch viel passender und auch ehrlicher gewesen wäre. Das Problem ist, dass ich schnell Probleme und Schmerzen in den Knien bekomme, wenn ich bergab gehen muss. Um mir dies zu ersparen, musste ich also erst mal ordentlich ackern. Auf den rund tausend Metern zum Schloss brauchte ich an der Nibelungenhalle und an der Mittelstation der Drachenfelsbahn zwei ausgedehnte Verschnaufpausen.
Am Haupteingang zum Schlosspark bemerkten wir, dass das Tor weit offenstand und, zu unserer Überraschung, auch das Kassenhäuschen besetzt war. Die Kassiererin erzählte uns, dass sie bereits den zweiten Tag wieder geöffnet hatten. Sie schien darüber genauso erfreut zu sein, wie Micha und ich. Da wir beide schon länger nicht mehr fremdes Terrain betreten hatten und in den letzten Wochen auch nirgendwo Eintritt gezahlt hatten, entschieden wir uns spontan dafür in einen Besuch der Drachenburg zu investieren. Die Burg erinnerte mich sofort an ein verwunschenes Märchenschloss. Vor dem Eingang stehen zwei imposante, goldene Hirsche. Schloss Drachenburg wurde von 1882 bis 1884 als Privatvilla für den Pariser Finanzfachmann Stephan von Sarter gebaut, der an der Börse eine kometenhafte Karriere als Spekulant gemacht hatte und so zu Reichtum gekommen war. 1881 konnte er sich mittels einer großzügigen Spende in den Freiherrenstand erheben lassen. Als Baron gehörte er fortan zur gehobenen Gesellschaft. Für den Bau einer standesgemäßen Villa wählte Sarter nicht etwa seine Wahlheimat Paris, sondern den vielbesuchten Drachenfels in Sichtweite seiner Geburtsstadt Bonn. Heute würde man ihn wahrscheinlich scherzhaft, aber dennoch abwertend, als übertriebenen Angeber mit viel zu kleinem primären Geschlechtsorgan bezeichnen. Ein Besuch der Burg ist absolut lohnenswert, man kommt aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Erst recht, wenn man bei einem kühlen Getränk den spektakulären Blick über das Rheintal bis hin zum Kölner Dom genießen kann.
Die unplanmäßige Visite der malerischen Villa hatte uns so viel Zeit gekostet, dass wir uns danach den weiteren Aufstieg auf den Drachenfels ersparten. Micha schlenderte den Hauptweg zurück, ich wähle für meine Talfahrt eine Nebenstrecke, die durch einen Wald verläuft. Ich musste nicht ein Mal in die Pedale treten und hatte Spaß, wie ein Bergbauernkind beim ersten Schlittenfahren nach einem langen, heißen und arbeitsreichen Sommer! Dafür hatte sich vorangegangene Quälerei wirklich gelohnt.
Da ich es im ersten Anlauf nicht bis auf den Drachenfels geschafft hatte, startete ich im Herbst einen Zweiten. Dafür hatte ich diesmal mein Pedelec im Gepäck. Ich wählte allerdings einen kleinen Umweg, um abseits des Hauptwegs mit etwaigen Touristenströmen unbedrängt strampeln zu können. Mein Weg führte mich durchs Nachtigallental, vorbei am Denkmal für den Komponisten und Krätzchensänger Willi Ostermann. Wenn man selber ein Spaßvogel ist, der dafür lebt, Quatsch auf Bühnen zu machen, ist die Freunde groß, wenn man bemerkt, dass es auch hier und da ein Denkmal für einen Menschen gibt, der keinen Krieg begonnen, sondern im Gegenteil, anderen Freude gebracht hat. Vielleicht schreibe ich ja auch mal ein Karnevalslied!? Darin wird sicher folgende Textzeile vorkommen: „Ich mööch möm E-Bike op dä Drachefels gon...“ Hundert Meter hinter dem Denkmal biegt man links ab. Nachdem der Weg einen Bogen nach rechts macht, hat man einen schönen Ausblick auf die Hirschburg. Der Weg schlängelt sich weiter bergauf und ist bis zur Aussichtsplattform gut ausgeschildert. Die 3 km lange Streckte bewältigte ich locker, elegant und ganz entspannt in knapp 30 Minuten. Auch, wenn ich mein klappriges Hollandrad sehr schätze, kann mich Technik durchaus begeistern und, im wahrsten Sinne des Wortes, nach vorne bringen. Ohne elektrische Unterstützung hätte ich es wohl kaum geschafft.
On Top kann man einen großartigen Ausblick auf das Rheintal und die Inseln Nonnen- und Grafenwerth genießen, die sich zwar direkt gegenüberliegen, aber in verschiedenen Bundesländern, nämlich Rheinland-Pfalz und NRW, beheimatet sind. Außerdem gibt es auf dem Hügel noch eine Burgruine, die Möglichkeit, eine Toilette zu benutzen, danach einen Kaffee zu trinken, um dann das Stille Örtchen aufzusuchen, ein Bierchen zu trinken und danach nochmals aufs Klo zu gehen.
Ich verbrachte gut eine Stunde auf der wirklich gigantischen und fast menschenleeren Aussichtsplattform, bevor ich das Abenteuer Abfahrt in Angriff nahm. Wie beim ersten Mal hatte ich freie Fahrt und eine mords Gaudi dabei!
Ich will mindestens noch einmal dort hinkommen, um mit der Drachenfelsbahn, der ältesten Zahnradbahn in Deutschland, aus der Altstadt in Königswinter bis ganz nach oben zu fahren. Dann vielleicht ja im Winter und vielleicht habe ich dann ganz zufällig einen Schlitten im Gepäck...