Die Dorfschänke Rißdorf in Günhoven ist für mich immer wieder ein guter Grund, am frühen Abend den Drahtesel zu satteln und über die Felder Richtung Nordpark zu fahren. Mein Weg führt über Feldwege, durch den Hardter Wald und an der Kirche in Heiligenpesch vorbei. An St. Mariä Heimsuchung scheiden sich die Geister. Manche finden die Arrangements hinter der Kirch einfach nur kitschig, denn sie erinnern tatsächlich ein bisschen an einen Märchenpark aus den 70er Jahren, für andere ist es ein wunderbarer Ort der Besinnung. Eine absolute Besonderheit des Wallfahrtsortes sind nämlich die, hinter der Kirche gelegenen Grotten der 14 Nothelfer. In 14 Nischen befinden sich Statuen heiliger Frauen und Männer. Weitere Teile der Anlage sind die Lourdesgrotte mit einem Marienstandbild und die kleine Rochusgrotte, in der St. Rochus als Patron der Pilger diese willkommen heißt. Unweit der Grotten steht, hinter dem Stadion an einer Feldwegkreuzung eine hölzerne Picknick-Tisch-Sitzbank-Kombination, an der ich, vor Heimspielen der Borussia, schon das ein oder andere Ur-Alt getrunken habe. Auch aus diesem Grund habe ich ein Gedicht, eine Art Coverversion von Eugen Gomringers avenidas für ein Projekt mit dem Titel Flächenpoesie auf ebendiesen Tisch schreiben lassen. In goldenen Lettern hat diese Arbeit meine Freundin, die Illustratorin Ruth Zadow ausgeführt. Sonne und Regen haben mein Gedicht längst wieder verschwinden lassen, aber ich werde mich immer daran erinnern, wenn mein Weg mich hier herführt, also entweder in meinen Block oder in die Dorfschänke. Und da ich den Inhaber der Wirtschaft aus der Nordkurve kenne, macht es in meiner Welt großen Sinn, dass der Weg nach Günhoven für mich am Stadion vorbeiführt. Jochen kann sehr gut kochen, seine Gerichte sind feine Gedichte! Und Außerdem gibt es dort einen wunderschönen Biergarten, in dem mir Jochen im letzten Sommer eine schräge Geschichte erzählt hat.
Vor Jahrzehnten hatte sein Großvater,
als dieser noch der Wirt der Dorfschänke war, einen Stammkunden, der
nach dem Krieg mit Freunden in Günhofen Falschgeld gemacht hatte.
Eine Zeitlang hatten sie davon auf großem Fuß gelebt, bis sie, auf
Grund eines kleinen Fehlers in Düsseldorf aufflogen. Diese
Geschichte diente mir als Grundlage und Inspiration für die folgende
Story.
Die drei Willis
Im Sommer des Jahres 1948 saßen die drei Willis am Rande eines Bombenkraters auf dem Rübenacker, tranken Bier und philosophierten über ihr Leben, die Welt und den ganzen Rest. Es ging ihnen eigentlich wunderbar. Obwohl sie Waisen waren, hatten sie ein Dach über dem Kopf, immer was auf dem Teller und dazu Niemanden, der ihnen Vorschriften machte. Seit Kriegsende war es am linken Niederrhein zudem sehr friedlich geworden. Zu friedlich für drei Jungs Anfang 20. Sie spürten die innere Unruhe, etwas aus ihrem Leben machen zu müssen oder wenigstens etwas Aufregendes zu erleben. Die drei Willis, so wurden sie von allen anderen Dorfbewohnern genannt, denn sie traten zumeist zu dritt in Erscheinung, waren Kriegswaisen. Der erste Willi war Wilhelm Maria Kieren, auch Kiere Will genannt, einziger echter Günhovener des Willi-Trios. Willi Nummer zwei, Wilhelm Adolf Busch, stammte aus einer Kothausener Strauchdieb-Familie und war, auf der Flucht vor seinem ständig besoffenen und herrschsüchtigen Onkel, in Günhoven gestrandet. Wilhelm Stoppelkamp, der auf Grund seines Spargel-artigen Körperbaus nur „De Lang“ genannt wurde, sobald er alleine in Erscheinung trat, war der Sohn einer ortsbekannten Wanderhure aus Otzenrath und auf dem Weg nach Amsterdam, wo er eine Ausbildung zum Zuhälter machen wollte, weil er die Familientradition fortsetzten wollte, in Günhoven hängen geblieben.
Sie lebten und arbeiteten auf dem Hof des Dorfschmieds, der, in Ermangelung einer Frau, selbst kinderlos war und die drei Jungs nach und nach bei sich aufgenommen hatte. Meistens waren sie damit beschäftigt, dem Schmied Material, Altmetalle in Form von Stahlhelmen, Orden und ausgedientem Militärgerät zu organisieren oder sie halfen im kleinen Lebensmittelgeschäft seiner, ebenfalls alleinstehenden Schwester aus. Wie Jungs in diesem Alter nun mal so sind, spielten sie der übrigen Dorfbevölkerung ansonsten gerne Streiche. So mischten sie der zahnlosen Schwester des Schmieds, die zusammen mit einem ganzen Rudel Katzen über ihrem Lädchen wohnte, einen Winter lang jeden Morgen Schnaps in ihren Brei. Da das Tantchen Emma leider sehr schwerhörig war und am grauen Star litt, geschah es, als sie eines Nachts, natürlich leicht angeschickert, durch das Dorf spazierte, weil sie nicht schlafen konnte, dass sie wieder eine heimatlose Katze auflesen und zu sich nach Hause locken wollte. Doch der herumstreunende Kater war keine klassische Hauskatze. Auf dem Feld am östlichen Dorfrand hatte ein Zirkus sein Winterlager aufgeschlagen und in dieser Nacht war Louie, der alte, ebenfalls zahnlose Löwe, stiften gegangen, durch das Dorf flaniert und dann eben auf das angetrunkene Tantchen gestoßen. Wie der Löwe dann tatsächlich durch das enge Treppenhaus in das, schon von etwa 30 Katzen belagerte, kleine Dachzimmerchen der Tante gekommen war, konnte nie sicher geklärt werden. Jedenfalls staunten die drei Lausbuben nicht schlecht über Tantchens neuen Bettvorleger, als sie am nächsten Morgen den Frühstücksbrei für die Katzenliebhaberin zubereiten wollten.
Beim Organisieren von Nachschub für den Schmied hatten sie eines Tages eine alte Druckerpresse in einer Kirche in Rheindalen gefunden und noch in der selben Nacht mit dem Pferdekarren abtransportiert. Im Keller des Tante-Emma-Ladens wurde die Druckerpresse dann aufgebaut und beschädigte oder fehlende Teile nach und nach ersetzt. Aus Gewehr- und Pistolenkugeln, die sie auf ihren Streifzügen oft kiloweise nach Hause schleppten, fertigten sie schließlich Druckplatten und Lettern an. Aus einer gewissen Not heraus entwickelte sich eine Geschäftsidee. Die drei Willis tranken gerne Bier, waren aber nie flüssig genug, um sich das flüssige Gold leisten zu können. Sie druckten also farbige Handzettel für den ortsansässigen Bierlieferanten, der sie mit dem begehrten kühlen Nass bezahlte und die erste Nachkriegs-Werbeagentur war geboren. Doch der immerwährende Suff war neben der Langeweile und einem Hauch von krimineller Energie, die jeder junge Mann in sich trägt, die letzte Zutat, die ihre Karriere als Ganoven befeuerte. Zuerst entstand die Idee, die verschollenen Tagebücher von Joseph Goebbels zu schreiben und diese Fälschung dann ganz „zufällig“, in einer Scheune, in der Nähe von Rheydt zu finden und dann an die Presse zu verscherbeln. Doch die Drei waren weder ideenreiche Literaten, noch hatten sie genügend historisches Hintergrundwissen. Das Projekt starb, noch bevor es das Licht der Welt erblickte. Es war dann schließlich Kiere Will, der die zündende Idee hatte. Aufgeregt erzählte er seinen beiden Mitstreitern beim allabendlichen Bier am Bombenkrater von seinem Plan. Im Laden über der Druckerei wurde seit ein paar Tagen mit den ersten neuen Geldscheinen bezahlt. Die Banknoten bestanden aus wenig strapazierfähigem Papier und für Willi Busch, der eine künstlerische Ader hatte, war es ein leichtes, die Scheine nachzuzeichnen. Sie fassten also einen, im Grunde wohl überlegten Plan, der ihnen im Endeffekt aber genau deshalb zum Verhängnis wurde. Weil sie, wie sie scherzhaft immer zu sagen pflegten, nur Kleinkriminelle waren, wollten sie keine großen Scheine drucken. Sie einigten sich, auch um kein Aufsehen zu erregen, darauf, fünf Mark Scheine zu fälschen. Über den Lebensmittelladen brachten sie das Falschgeld in Umlauf. Jedes Mal, wenn ein Kunde wieder eine Hand voll Fünfer als Wechselgeld herausbekommen hatte und dann witzelte: „Samma, macht ihr die selber?!?“ lautete die, von einem süffisanten Grinsen begleitete, kurze Antwort: „JA!! Die drucken wir im Keller!“
Ein paar Jahre lief ihr „Geschäft“ dann ganz prima und völlig reibungslos. Sie hatten immer genug zu trinken und engagierten auch eine Haushaltshilfe, die sich rührend und kochend um den alten Schmied kümmerte, der die Drei, als sie in Not waren, aufgenommen hatte. Doch am 30. Geburtstag des Langen wurden sie übermütig. Sie waren mit dem Zug nach Düsseldorf gefahren, um „an der Quelle“ in der Füchschen-Brauerei seinen Ehrentag zu begehen und gebührend zu feiern. Auf der Bahnfahrt hatten sie eine leckere Flasche Appelkorn geleert und beseelt vom karnevalistischen Getränk wirkte das Metropölchen an der Düssel wie New York auf die drei Jungs vom Lande. Nachdem sie sich durch ein paar Kneipen auf der Retematäng getrunken und andere, längst dem Größenwahn verfallene Säufer getroffen hatten, sprach Kiere Will: „Ihr Wilhelme! - Wir Willis!! - Wir laufen rum, wie Bauern! - Aber Unternehmer sind wir! Geschäftsleute!! - Bankiers!!! - Auf zur Königsallee! - Kleider machen Leute!! - Im Anzug säuft sich eleganter!“ Als die drei Niederrhein-Mafiosi ihre neuen, dreiteiligen Anzüge, samt Hemden, Krawatten und Einstecktüchern mit einem Koffer voller Fünf Mark Scheine bezahlen wollten, bemerkte der verwunderte Schneider leider zu schnell, dass alle die gleiche Seriennummer hatten. Aus einer Diskussion wurde Geschrei, daraus ein Handgemenge, bei dem die versammelte Verkäuferschar den Entlarvten die neuen Kleider vom Leibe rissen. Wenig später flitzten drei angetrunkene und halbnackte Bauernlümmel über die Prachtmeile. Diesem Umstand wird seit dem, jedes Jahr im Düsseldorfer Karneval mit dem sogenannten Tuntenlauf auf der Kö gedacht.
De Lang tauchte ab, gründete eine Tauchschule und den ersten Unter-Wasser-Puff in Renesse.
Wilhelm Adolf Busch setzte sich nach West-Berlin ab und lebte davon, dass er auf dem Ku'damm Karikaturen von amerikanischen Soldaten zeichnete. Auf einem Kunstfälscher-Kongress Ende der 70er Jahre lernte er einen Maler namens Konrad Kujau kennen, dem er von seinem, fast in die Tat umgesetzten Plan von der Fälschung der Goebbels-Tagebücher erzählte...
Kiere Will versteckte sich bis Mitte der 60er Jahre im Bombenkrater auf dem Rübenacker und wurde später Hausmeister bei der Kreissparkasse in Rheindalen. Jeden Abend, nach der Arbeit, sitzt er an einem selbst gegrabenen, kraterartigen Loch in seinem Garten, trinkt drei Kisten Starkbier und träumt sich in eine Zeit zurück, als die drei Willis noch ein Team waren.